Aleatorik oder Chaos ? (Essay)

 

 

 

1. Kapitel       Theorie oder: „Je nun, eine gute Verwirrung ist weit mehr wert, als eine schlechte Ordnung.“[1] (L. Tieck)

 

 

Aleatorik oder Chaos?“

Ist das eine möglich Frage ?

Vermutlich wird Sie – liebe Zuhörer - die scheinbare Alternative „Aleatorik oder Chaos“ ein wenig überraschen, sind wir doch eher gewohnt „Aleatorik“ gegen „Serialismus“ oder „Chaos“ gegen „Ordnung“ zu halten. Und manche Leute würden vielleicht sogar so weit in die falsche Richtung gehen und sagen, dass Aleatorik eine Vorstufe oder gar schon eine Art Vorhölle des Chaos sei.

 

Wenn man von „Chaos“ spricht, das Wort „Chaos“ sich auf der Zunge zergehen lässt, dann wird uns immer noch, immer wieder unheimlich, auch wenn bei Vielem, was man leichtfertig Chaos nennt, kein Grund dafür besteht. „Chaos“ wirkt oft überfallartig („jetzt bricht das Chaos aus“) und der Anteil des Schicksalhaften darin ist weit höher als bei dem verspielten Wort „Aleatorik“, das nahe legt, dass die Würfel bei jedem Wurf auch anders fallen könnten und zwischen den Würfen folglich kein substanzieller oder existentieller Unterschied bestehe. Das macht die „Aleatorik“ gegenüber dem „Chaos“ zu einem berechenbaren Faktor, zwar ist sie beweglich und launisch wie die Börsenkurse, aber auf die lässt sich ja auch dennoch trefflich  wetten. Zwar wird das Wort „Chaos“ (ganz anders als das Wort „Aleatorik“) heute inflationär und meist nicht im Kontext der Musik gebraucht, aber ich denke, dass die paradoxe Idee, die Vorstellung des Chaos viel wichtiger als der Gedanke der Aleatorik für die Musik ist.

 

Was ist – herkömmlich und nicht nur musikalisch gefragt - das echte oder vermeintliche Gegenteil der Aleatorik ?

Das ist nach geläufiger Meinung ein exakt geplanter und geordneter Verlauf der Musik und damit ebenfalls die Idee einer durch und durch planbaren und durchschaubaren Geschichte, ja sogar überhaupt die Idee von „Geschichte“. Diese Idee einer kontrollierbaren Geschichte war mir persönlich (und wie könnte ich hier anders sprechen als persönlich) immer suspekt und hat mich dennoch gleichzeitig fasziniert. Mit dieser Faszination stehe ich sicher nicht allein, denn die Geschichtsschreibung und auch die Musikgeschichtsschreibung der letzten – sagen wir mal - 200 Jahre nähren sich genau davon. Aber musikalischen und geschichtsphilosophischen Konzepten, die die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklären, die genau wissen wann etwas beginnt (zum Beispiel in einer „Stunde Null“) und ebenso wann es endet (zum Beispiel: „das Stück endet deshalb, weil alle Reihentöne durch sind“ oder: „die Musik endet mit Richard Strauss“ oder: „alles was mit Geräuschen komponiert ist, ist keine Musik mehr“ und dergleichen), ist meines Erachtens grundsätzlich zu misstrauen. Es ist ihnen nicht einmal wegen konservativer oder revolutionärer Positionen zu misstrauen (das wäre ein rein innersystemischer Aspekt), sondern viel grundsätzlicher vor allem deshalb, weil alle diese Anschauungen eine klare Rückschau, eine vermeintliche Übersicht und ebenfalls eine Vorhersehbarkeit der Geschichte behaupten, egal ob dies nun aus einem konservativen oder revolutionären Ansatz heraus geschieht. Diese Behauptung halte ich für Systemblindheit, denn methodisch spielen wir Gott. Wenn man aber diesem Konzept misstraut - und paradoxerweise kann man wunderbar mit ihm komponieren und ihm gleichzeitig misstrauen, wie dies zum Beispiel in den besten Werken des Serialismus geschieht - dann wird der Zufall ein mächtiger Mitspieler.

 

Ist Aleatorik wirklich eine Alternative zum Serialismus ?

Der Gegensatz SerialismusAleatorik wurde in der Musikgeschichtsschreibung der letzten Jahre meines Erachtens stets überbetont und es wurde übersehen oder dadurch verdeckt, dass darin gar kein wirklicher Gegensatz steckt: Der Ordnungsfuror der Serialisten ist in mancher Hinsicht genauso willkürlich-zufällig wie die vermeintlichen Freiheiten der Aleatorik: an ihr tritt nach außen, was im Denken des Serialismus steckt. Hinzukommt, dass es  vielfach kaum etwas Geordneteres als aleatorische Kompositionen gibt,  ich denke zum Beispiel an 4’33’’ von John Cage, das wie äußerste Willkür und Provokation erscheint, indem es uns 4’33’’ lang ein lautes Nichts präsentiert, seine Entstehung aber einem strengen Verfahren durch Rechenoperationen mit dem I Ging verdankt. In fast allen Stücken von Cage können wir diese Strenge beobachten, und – jetzt wage ich ein bisschen Prophetie, ohne allzu mutig zu sein - es wird sich herausstellen, dass überraschenderweise John Cage der größte Serialist des 20.Jahrhunderts gewesen sein wird. Diese enge Geistesverwandtschaft von Serialismus und Aleatorik haben die Komponisten, die Serialismus und Aleatorik erfunden haben, intuitiv erkannt, und bezeichnenderweise haben fast alle Serialisten ja ebenfalls aleatorisch komponiert. Nur die Epigonen sind – wie immer - in die eine oder andere Falle gelaufen.

 

Musikalische Aleatorik ist in unserem Denken heute längst domestiziert, weil sie das musikalische Haus, dem sie vermeintlich entsprang, nie verließ. Es lohnt sich heute nicht mehr über Aleatorik als Alternative zum Serialismus oder gar als Alternative zu „Ordnung“ zu reden, da die aleatorischen Verfahren selbst von einer ästhetischen Position zu einem einfachen Ordnungsprinzip geworden und oft zu einem dekorativen Verfahren verkommen sind. Obendrein wird dieses Prinzip vielerorts inzwischen akademisch als Kompositionsstil verbreitet: hier ist – wir sind hier ja in einer Akademie – äußerste Vorsicht geboten, denn diese Art Kanonisierung ist immer ein schlechtes Signal für die Kunst und allzu leicht geht dabei das eventuell noch mögliche anarchische Potential im Ordnungswillen der Lehre unter.

 

Das betrifft aber nicht nur die Konservatorien, diese verspäteten und getönten Spiegel der Welt: wir leben in der wirklichen Welt heute immer noch und immer mehr in einem Ordnungswahn der Technik und der Verwissenschaftlichung, der sich überallhin verbreitet. Deshalb muss sich unser Augenmerk auf etwas anderes richten, als die inzwischen sanktionierte Aleatorik, die nur mehr als kontrapunktische Spielart allgegenwärtiger Ordnungssysteme erscheint und durch dieses Kontrapunktieren, so wie in der Fuge das contra-sogetto das sogetto verstärkt, die Ordnungssysteme bestätigt.

 

Also schauen wir mal mutig auf etwas anderes, schauen wir auf das Chaos.

 

Das Chaos ist viel interessanter und viel unheimlicher (unheimlich sagt es genau: es nimmt uns die Heimstatt unserer Denkgewohnheiten), weil wir uns darunter nichts vorstellen können, weil es schlicht nicht vorstellbar ist. Wäre das Chaos vorstellbar, dann wäre es keines mehr. Es ist immer das absolut Besondere, Außerordentliche (auch hier im wörtlichen Sinne – außer-ordentlich, außerhalb der Ordnung, Hölderlin spricht in seiner Poetik – ganz gegen Hegel - vom „Exzentrischen“), es ist das „Ereignis“, das nie im Allgemeinen aufgeht. Jacques Derrida sagt über das Ereignis: „Ein Ereignis ist zuerst, dass ich nicht verstehe. Es besteht darin, dass ich nicht verstehe: das, was ich nicht verstehe, und es ist zuerst, dass ich nicht verstehe, die Tatsache, dass ich nicht verstehe: mein Unverständnis.“[2]

So etwas, ein Ereignis, das sich seiner Einordnung entzieht, mag der geschichtsphilosophische Weltgeist, der den Verlauf der Geschichte gerne geordnet, sozusagen in Reih und Glied sehen möchte, nicht: der Weltgeist schneidet das Besondere immer ab, um sich und seine Ideen und Ideale zu schützen. Charly Chaplin hat dafür eine wunderbare Filmszene geliefert, die Kofferszene: die Kleider, die aus dem Koffer, in den sie hineingestopft wurden, noch hervorschauen, werden einfach abgeschnitten, denn die Gesamtform geht immer über die Qualitäten des einzelnen, - und dadurch werden die Kleidungsstücke, die einzelnen Ereignisse, zerstört.

 

„Das Chaos, als die dunkle, triebhafte Macht des Unbewussten, hat (…) eine geschichtsphilosophische Dimension: Es bedeutet das Noch-Nicht-Gewußte. In den gärenden Formen des Zufalls und der Überraschung machen sich die Triebkräfte der Zukunft bemerkbar.“[3] (Beat Wyss – Trauer der Vollendung, S.322). Geschichtsphilosophie und der vernünftige Weltgeist wollen kein Chaos, denn das Chaos attackiert die schön geplanten geschichtlichen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn das Chaos kommt aus der Zukunft und platzt in die Gegenwart, die wir uns aus der Vergangenheit zurechtgemacht haben. „Geschichtsphilosophie ist der Versuch, den Zufall abzuschaffen.“[4], sagt der Kunsthistoriker Beat Wyss.

 

Die Zeiten aber – der Weltgeist mag es bedauern –, „als“ - ich zitiere aus Stanislaw Lems – „Die erste Reise“ – „der Kosmos noch nicht so durcheinander war wie heute und alle Sterne säuberlich in Reih und Glied standen, so dass man sie leicht von links nach rechts oder von oben nach unten abzählen konnte, wobei sich die größeren, die von intensiverem Blau, gesondert gruppierten, während die kleineren und verblassten als Körper zweiter Ordnung in die Ecke abgedrängt waren, als niemand die geringste Spur von Staub, Unrat oder Spiralnebel wahrnehmen konnte (…)“[5] sind vorbei. Lustigerweise tauchte genau in der Zeit, als Jacques Monod (in „Zufall und Notwendigkeit“) von wissenschaftlicher Seite die religiösen und philosophischen Legitimationen der Notwendigkeit und Zielgerichtetheit eines geschichtlichen Verlaufs zertrümmert hatte, die wissenschaftliche Chaostheorie auf, die vermeintlich das Chaos erklärbar macht, - ein gefundenes Fressen für Leute, die gerne wieder den Lauf der Geschichte erklärbar machen wollen. Bekanntlich lässt sich ja alles mehr oder weniger vernünftig drehen und wenden, bis es wieder – mehr oder weniger - in einen herbei gewünschten Weltenplan passt. Aber diese Sorte Chaos ist – weil es eine Sorte ist – gar kein wirkliches. Das echte Chaos ist subversiv und erscheint nie dort, wo man es meint sortieren zu können: das hat uns das 20.Jahrhundert überdeutlich gelehrt.

 

Vernunft, Aufklärung und Ordnung schlugen in der Mitte des letzten Jahrhunderts in äußerstes Chaos um, die uns allen bekannten Stichwörter sind unter anderem: die Vernichtung des europäischen Judentums, der 2. Weltkrieg und Hiroshima. Adorno und Horkheimer haben in ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“ davon Zeugnis abgelegt, aber auch schon bei Karl Kraus oder in Robert Musils kleinem Aufsatz „Das hilflose Europa“ wäre es nachzulesen gewesen.

 

Nach der Judenvernichtung, dem 2. Weltkrieg und Hiroshima, die das größte denkbare Chaos des Vernunftwahns waren, finden wir in den 50er Jahren aber überraschenderweise folgende Situation: die neue Orientierung, die so genannte Stunde Null kocht ausgerechnet die Ideologie der ordnenden Vernunft auf, die gerade so ein schreckliches Inferno erzeugt hatte. Die 50er Jahre sind gesellschaftlich, aber auch musikalisch von einem Furor der Neuordnung und gleichzeitig der Restitution der Werte, die gerade zuvor so grauenhaft versagt hatten, geprägt: ein grandioser Verdrängungsmechanismus tritt – bezeichnenderweise auf beiden weltpolitischen Seiten, der östlichen und westlichen - auf den Plan. Vergessen wir nicht: der Osten, das war damals der böse Kommunismus, der Warschauer Pakt. Und vielleicht wird sich mit der Zeit herausstellen, dass der Kommunismus – entgegen allen Hoffnungen - gar kein anderes Weltensystem, sondern eine Spielart des bürgerlichen Kapitalismus, gegen den er antrat, war. Daran dürften beiderseits Altkommunisten wie Altkapitalisten zu kauen haben.

 

Zweifel am Ordnungswahn der 50er Jahre äußerte sich in der Kunst in einer ersten Welle in den 60er Jahren. Es scheint als hätten sich in den 60er Jahren musikalisch mit der Aleatorik, und mit dem Fluxus und den Happenings die erstarrten Formen geöffnet. Aber meist waren diese Formen  entliehen, sind mit wenigen, aber entscheidenden Ausnahmen, und so modern und revolutionär sie sich auch fühlten, nur Auf- oder Abgüsse der Ideen der Dadaisten und Surrealisten beziehungsweise der Aktionen Marcel Duchamps. Heute sehen wir deutlicher, dass die meisten dieser Formen (und ebenso ihre Problemstellungen) in den 20er Jahren entscheidend vorgebildet waren. In äußerlich oft skandalösen Aktionen ging dieser geschichtliche Aspekt meist verloren, Dada wurde - durch variierende Wiederholung im Fluxus - eingemeindet und gleichzeitig globalisiert. Wenn man sich Filmmitschnitte von Fluxusaktionen, ich denke zum Beispiel an „cut piece“ von und mit Yoko Ono aus dem Jahre 1963 ansieht, dann vermittelt sich in hohem Maße die Enge dieser Epoche und wie sehr auch der Protest dagegen selbst an diese Enge gebunden ist. Fluxus und Aleatorik, die uns heute als wesentlich amerikanische, will heißen von Künstlern der USA erfundene Bewegung der 60er Jahre erscheinen, setzten in größerem Maßstab ziemlich genau die Tendenzen der Dadaisten und Surrealisten fort, wobei die Aktionen nun nicht mehr auf ein ironisch-liberales Pariser Publikum der 20er Jahre, sondern auf ein recht eng ästhetisch-moralisierendes amerikanisches und deutsches Publikum, das sich gerade mit Erleichterung an den abstrakten Expressionismus gewöhnt hatte, trafen. John Cage ist einer der wenigen  Künstler, der deutlich und aufrichtig die ursprüngliche Beziehung markiert, indem er auf Duchamp und Satie als seine Quellen verweist.

 

Die großen Skandale des Fluxus können leicht darüber hinwegtäuschen, wie seelenverwandt sie mit denjenigen ästhetischen und gesellschaftlichen Formen waren, gegen welche sie protestierten und welche wiederum von Fluxus nichts hielten. Man darf sich von manchen skandalös erscheinenden Fluxus-Aktionen nicht täuschen lassen. Parallel zu den Ausbruchsversuchen des Fluxus und der Aleatorik und meist sogar in ihnen lief die Suche nach dem großen Ganzen weiter und die weltpolitische Lage ließ noch immer an Alternativen und an deren Verwirklichung glauben. Konkurrierende Mao-Marx-Jesus-Kapitalismus-Bibeln gab es aller Orten und diese Sehnsucht nach dem einen und wahren Weg reichte bis in die Generation der vermeintlich unpolitischen Blumenkinder: Haben wir die Baghwanis etwa schon vergessen ?

 

Fluxus und Aleatorik sind in einem weiteren wesentlichen Punkt nicht von den bürgerlichen  Traditionen unterschieden, denn sie wollen immer über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaustreten, tendieren ebenso wie die negierte bürgerliche Kunst zum Gesamtkunstwerk. Und wie alle Gesamtkunstwerke wollen sie den wirkenden Weltgeist atmen. Das beste Beispiel liefert dafür wohl K.H. Stockhausen, der nicht nur eine Fluxus-Aktion mit dem bezeichnenden Titel „Originale“ startete und darauf bestand, dass – so Charlotte Moorman in einem Interview – wenn in der Partitur „Paik“ stand, dass diese Partitur auch nur von „Paik“ ausführbar sei, als ob das Ideal eines Originals noch oder je zu haben gewesen wäre, sondern auch bekanntlich bis heute mit musikalischen Weltformeln hantiert und die große ganze Welt in siebentägigen Opern erklärt.

 

Meine Krämerseele hat sich angesichts von gesamtkunstwerkartigen  Fluxus-Aktionen immer gefragt, warum danach immer so viel Müll übrig bleibt und wer den wegräumt. Und daran schließt sich die Frage, ob das Wegräumen noch zur Fluxus-Aktion gehört, also ob das Gesamtkunstwerk sich so weit in die Lebenspraxis hineinwagt, dass Müllwegräumen auch Kunst wird, oder ob im Hintergrund immer noch unmerklich eine bürgerliche Ästhetik arbeitet, die sich im Happening eine weitest mögliche Ausnahme sucht, bei der Müllfrage aber gerade wieder die Trennlinie zwischen Leben und Kunst zieht. Die Überschreitung oder Aufhebung dieser Linie, der Linie zwischen Leben und Kunst, ist offensichtlich nur durch völlige Banalisierung zu erreichen: „Alles ist Kunst“ – daran glaubt nur,  wer auf welche Weise auch immer ganz besonders gläubig ist oder wer den Schritt der Aufhebung der Kunst vollzogen hat. Lustigerweise folgt beides treu Hegels Geschichtsphilosophie, die mit der bürgerlichen Epoche das Ende aber auch die Vollendung der Kunst herbei gekommen sieht.

Oder gibt es vielleicht noch etwas anderes ?

 

„Gott und Marx und John Lennon sind tot.“[6], schreibt Haruki Murakami im Jahre 1995.

Zu Beginn der 80er Jahre begann alles zu bröckeln, und das große Ganze als Ideal oder Ideologie zerbrach, indem es endgültig 1989, als die konkurrierenden politischen Systeme zerfielen, real erschien. Der nackte Globalkapitalismus, das einzige Ganze, das schon seit über 150 Jahren im Hintergrund den Motor der Weltgeschichte ausgemacht hatte, tritt 1989 mit aller Macht in den Vordergrund. An dieser Stelle sind wir noch heute. Und von einem globalisierten Kapitalismus oder von Globalisierung zu sprechen, ist dabei eigentlich müßig, denn der Kapitalismus war immer schon global, ging immer auf das Ganze: oder wie wären sonst die Kolonialzeit und so schöne Ereignisse wie die Pariser Weltausstellung zu deuten ?

 

Wie Sie sehen, mache ich ständig „unzulässige“ Übergänge zwischen Politik und Kunst:

 

Also was macht die Kunst ?

Sie ist immer politisch, macht aber keine Politik.

Sie ist in ihren besten Äußerungen immer subversiv.

Sie lässt das Chaos, was auch immer das sein mag, in die Welt, denn ohne dieses Chaos wäre die Welt unmenschlich.

 

Gilles Deleuze zitiert in seinem Buch „Was ist Philosophie ?“ einen Text von D.H. Lawrence - „Das Chaos in der Poesie“. Er schreibt: „Unablässig stellen die Menschen eine Schirm her, der ihnen Schutz bietet, auf dessen Unterseite sie ein Firmament zeichnen und ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der Dichter, der Künstler aber macht eine Schlitz in diesen Schirm, er zerreißt sogar das Firmament, um ein wenig freies und windiges Chaos hereindringen zu lassen und in einem plötzlichen Lichtschein eine Vision zu rahmen, die durch den Schlitz erscheint, die Schlüsselblume von Wordsworth oder der Apfel Cézannes, der Umriss von Macbeth oder Ahab. Nun folgt die Menge der Nachahmer, die den Schirm mit einem Stück flicken, das vage der Vision ähnelt, und die der Ausleger, dien den Schlitz mit Meinungen füllen: Kommunikation. Immer weitere Künstler werden nötig sein, um weitere Schlitze anzubringen, um die notwendigen und vielleicht immer größeren Zerstörungen vorzunehmen und so ihren Vorgängern die unkommunizierbare Neuheit zurückzugeben, die man nicht mehr zu sehen vermochte. Das heißt, dass der Künstler sich weniger mit dem Chaos herumschlägt (das er in gewisser Weise aus vollem Herzen herbeiwünscht) als mit den „Klischees“ der Meinung. Der Maler malt nicht auf einer noch unberührten Leinwand, wie auch der Schriftsteller nicht auf einem weißen Blatt schreibt, vielmehr sind Blatt und Leinwand schon derart bedeckt mit bereits bestehenden, fertigen Klischees, dass als erstes ausgewischt, gewaschen, gewalzt, ja zerfetzt werden muss, um einen Luftzug vom Chaos her eindringen zu lassen, der uns die Vision bringt. Wenn Lucio Fontana die farbige Leinwand mit einem Rasiermesser einschneidet, dann durchschneidet er nicht die Farbe, im Gegenteil: Er macht uns durch den Schlitz die reine Farbfläche sichtbar. (…) Die Kunst ist nicht das Chaos, wohl aber eine Komposition des Chaos, die die Vision oder Sensation schenkt, so dass die Kunst einen Chaosmos bildet, wie Joyce sagt, ein komponiertes Chaos – weder vorausgesehen noch vorgefasst.“[7]

 

Theodor W. Adorno formuliert es „In nuce“ so: „ - Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“[8]  An anderer Stelle sagt er: „Das Ganze ist das Unwahre“[9] und richtet sich damit genau gegen Hegels: „Das Ganze ist das Wahre.“, welches einen, wenn nicht gar den Grundgedanken der Hegelschen Geschichtsphilosophie darstellt. Adorno wurde von den 68ern wohl auch deshalb so schändlich behandelt, weil er sich weigerte, ein neues Ganzes zu sehen – das gilt gleichermaßen für die konservativen wie für die progressiven 68er. Sie haben ihm wohl die „Dialektik der Aufklärung“ nie verziehen und vor allem nicht den Schluss, dass die Ordnung, mag sie nun freundlich soft oder autoritär streng daherkommen, selbst in Chaos umschlagen kann. Bis heute kann es die Gesellschaft, unsere Gesellschaft nicht ertragen zu denken, dass gerade Ordnungswahn die Judenvernichtung erst ermöglicht hat. Im Grunde war wohl die 68er Generation – und ich kann mich und meine Generation, die Kinder der 68er, getrost dazuzählen - den guten und schlechten Idealen ihrer Väter und Mütter treuer, als sie es gerne gewesen wäre, ob als links- oder rechts-ideologische oder als ökologisch- biedermeierliche Variante. Allen gemeinsam war der Wille nach einem festen Gang der Weltgeschichte und ästhetisch waren sie alle, wie Hanns Eisler es beschrieb, entschlossen gegen volksferne Dekadenz eingestellt,  pochten – vor allem in Bezug auf die Musik - auf der scheinbaren Ewigkeit bestimmter ästhetischer Werte und arrangierten sich nebenbei aber mit der volksnahen Dekadenz. Es ist Hanns Eislers großer Verdienst, dass er sich nicht auf die einfachen Lösungen der einen oder anderen Seite eingelassen hat, mag sein Schaffen auch von der einen wie von der anderen Seite aus wie ein Scheitern aussehen. Aber bekanntlich – und auch hier ist es so - wird das Aussehen wesentlich von den Brillen der Sehenden bestimmt.

 

Das Chaos, die Subversion wird gerne und zu Recht als Störung oder als eine Art Verschmutzung wahrgenommen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, möchte die Vernunft auch die Ästhetik hygienisch sauber und geordnet und ohne jegliche Subversion: daher die Vorliebe der Banken für so genannten abstrakten Expressionismus, denn die Abstraktion, die die Expression zähmt, schlägt dabei aus Sicht der Bank glücklicherweise in Dekor um: die meiste „Kunst am Bau“ ist aus gutem Grund subversionslos, harmlos-flach, oft nicht einmal „bien habillée“, sondern nur ordentlich: schmucklos erscheint sie quasi im schwarzen Anzug oder im Kostüm, im Erscheinungsbild sich ihrem Auftraggeber angleichend - nicht nur sauber, sondern rein.

 

Wie sehen nun die Grazien, die Göttinnen der Anmut, in den Zeiten der Vernunft, in unserer Zeit aus ?

 

à Jacques Tati – „playtime“ [Anfang zeigen, ab 2’30’’- ca. 6’17’’]

 

Haben sie die Grazien bemerkt ?

 

Die Grazien werden als (Mode-)Puppen in den Hintergrund des Geschehens verbannt, und es ist gar nicht sicher, ob es überhaupt Grazien sind, denn lustigerweise ist eine der drei posierenden Figurinen  ein Mann. Aber eines ist sicher: die Vernunft hat alles Leben ergriffen, der Mensch ist der Störfaktor („oui, oui“) seiner Erfindung, er ist selbst mit seinem unberechenbaren Unterbewussten das Chaos seiner Ordnung: form follows function, nur kommt die menschliche „Form“ dabei nicht besonders gut hinterher - das ist in jedem einzelnen Moment des Film spürbar, wobei lustigerweise gleichzeitig gezeigt wird, dass die Technik selbst vielfach ihren eigenen Ansprüchen oder denjenigen ihrer Erfinder hinterherhinkt. Das wunderbare Paradox an „playtime“ ist, dass Jacques Tati, der die Technik kritisiert, ihr eigener Erfinder ist. Der Film war und ist so erfolglos (er wäre sicher ebenfalls im Sozialismus abgelehnt worden), weil er jenseits politischer Systeme genau das paradoxe Versagen aller Beteiligten – Menschen wie Technik - auf sehr charmante Weise aufdeckt, ohne in irgendeiner Weise polemisch zu sein. „playtime“ ist ganz künstlich und ganz realistisch zugleich: schauen sie sich mal die Flughäfen der Welt und die Menschen, die sie bevölkern, an und  vergleichen sie mit der erfundenen Architektur Tatis. Oder denken sie an La Defense und an die meiste Architektur, die uns heute, vielleicht auch gerade hier in Hannover, umgibt oder in welcher wir uns gerade befinden.

 

Zu viel Vernunft an falscher Stelle ist der Kunst abträglich, Künstler haben immer davor gewarnt. Auch Friedrich Schiller insistiert darauf und gibt nahezu eine Anleitung zum chaotisch sein: „(…) Es scheint mir nicht gut und dem Schöpferwerk der Seele nachteilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Toren schon, zu scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig, vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: - Alles das kann der Verstand nicht beurteilen, wenn er sie nicht solange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, deucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Toren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann übersieht und mustert er den großen Haufen. – Ihr Herren Kritiker, und wie ihr euch sonst nennt, schämt oder fürchtet Euch vor dem augenblicklichen, vorübergehenden Wahnwitze, der sich bei allen eigenen Schöpfern findet (…)“[10]

Bertold Brecht formuliert es subversiv-prosaischer als Schiller, aber nicht weniger treffend: „Unordnung ist, wenn nichts am rechten Ort ist, Ordnung ist dagegen, wenn am rechten Ort nichts ist.“

 

 

 

2. Kapitel      Praxis oder: „Is des a Ordnung ?“[11] (J. Nestroy)

 

 

Über Chaos zu sprechen oder zu theoretisieren erzeugt ein spannendes Paradox: den Begriff „Chaos“ in die ästhetische Diskussion einzuführen heißt, sie wirklich neu zu beginnen, denn die Diskussion wird aus innersystemischen Differenzen (die Alternative „seriell oder aleatorisch“ wäre solch eine innersystemische Differenz) herausgerissen. Es heißt aber auch, diese Diskussion gleichzeitig zu beenden, denn es gibt keine Kategorien für Chaos. Chaos kann man nicht fassen: Haydns Chaos ist ein Wunder an Ordnung - und haben sie nicht schon mal überlegt, ob sich nicht gerade in Haydns großem C-Dur-Licht das wahre Chaos zeigt, ob nicht ausgerechnet darin die absolute Exzentrik erscheint ? Noch heute ist dieses C-Dur ein Schock und den zeitgenössischen Hörern müssen dabei die Ohren abgefallen sein. Das Chaos tritt immer an Orten und auf Weisen auf, die wir nicht erwarten können, Chaos ist nicht theoretisierbar. Das ist der wahre Zufall, der mir zufällt, für den ich als Künstler bereit sein muss.

 

Da ich mich nach langer Vorrede nun im Kapitel „Praxis“ befinde, muss ich mir die Frage stellen und gefallen lassen, über welche Praxis ich hier überhaupt sprechen oder welche Praxis ich hier präsentieren könnte und ich denke, dass ich mich meiner Vorrede selbst mit meiner eigenen kompositorischen Praxis stellen und sozusagen meine eigene musikalische Arbeit in die Waagschale werfen muss.

 

Ich wähle dazu mein Stück „play“ für 6 Stimmen und Zuspielung, das auf einem Text gleichen Namens von Gertrude Stein aus dem Jahre 1906 basiert:

 

Some play every day.

Some play all day.

Some play to-day.

Some play and play.

Some play and play and play.

Some play every day and all day.

Some play away.

Some play and play and play.

 

play“ ist – Sie werden es hören - weitest möglich von allem entfernt, was man normalerweise „Spiel“ oder gar „game“ nennt. Zu denken ist wohl eher an das japanische Go (das viele Stunden dauert und keine absoluten Sieger kennt) oder an die Art wie Kinder alleine spielen und durch das Spielen lernen (ernst und konzentriert) oder an eine Haltung wie bei Schumann, dessen Vortragsbezeichnung für „play“ übernommen wurde: „ruhig und gespannt“. „play  spielt, gerade weil das Stück sehr bedächtig ist, mit kleinen überraschenden Wendungen, die - zum Glück - nicht begründbar sind.

 

Bevor ich Ihnen das Stück vorspiele, möchte ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danken und Sie leise vorwarnen, denn das Stück, das meines Erachtens – und es bleibt Ihnen überlassen, ob sie mir zustimmen oder nicht - auf sanfte Weise das Chaos in diesen Raum bringen wird, dauert zähe 22 Minuten.

Mehr möchte ich nicht sagen, denn mein Argument ist das Stück selbst. Es bleibt mir nur auch hier noch das Zitat von Jacques Derrida, das der Partitur voran steht, vor das Stück stellen:

 „Noch einmal, gewiss, aber für mich ist noch einmal stets ein neues Mal, auf jedes Mal ganz neue Weise, nochmals ein erstes Mal, einmal mehr und ein für allemal das erste Mal. Nicht ein einziges Mal für immer, sondern ein für allemal das erste Mal.“

 

à vorspielen

 

 

 



[1] Ludwig Tieck – „Verkehrte Welt“

[2] Jacques Derrida - „Philosophie in Zeiten des Terrors“, S.123

[3] Beat Wyss – Trauer der Vollendung, S.322

[4] Beat Wyss – Trauer der Vollendung, S.322

[5] Stanislaw Lem – „Die erste Reise“ (aus Kyberiade)

[6] Haruki Murakami – Der Bäckereiüberfall, in: Ein Elefant verschwindet, S.51

[7] Gilles Deleuze / Felix Guattari - „Was ist Philosophie ?“, S.241 f

[8] Theodor W. Adorno – Minima Moralia, S.298

[9] Theodor W. Adorno - Minima Moralia, S.57

[10] Beat Wyss – Trauer der Vollendung,  S.335

[11] Johann Nestroy - Lumpazivagabundus